Sonntag, 6. Februar 2011

Nagel - "Was kostet die Welt"

Ganz unvoreingenommen kann man dem zweiten Werk des ehemaligen Muff Potter Sängers Nagel "Was kostet die Welt" als Fan seiner Band natürlich nicht gegenüberstehen. Zu oft hat man ihre Lieder und Worte durch die Ohren direkt ins Großhirn fließen lassen und die Grundsätze ihres 'Angry Pop' verinnerlicht: die Notwendigkeit von Blasphemie, die Proportionalität von Schmerz und Mut und die Definition des Wortes 'traurig' - um nur einige wenige zu nennen.

Nach der autobiographischen Frust- und Vergangenheitsbewältigung 'Wo die wilden Maden graben' nun also das zweite Buch. Hauptcharakter ist Meise, ein Mittzwanziger, der sich in Berlin zwischen Zigarettenkiosk, seinem Arbeitsplatz in einer Kneipe und einer Parkbank eingerichtet hat. Als er durch den Tod seines Vaters in den Besitz einer grösseren Geldmenge gerät, ist ihm sofort klar was er mit dem Erbe machen muss: raus in die Welt muss er, und das Geld mit Reisen restlos aufbrauchen. Der Beginn des Buches setzt nun nach dem Ende seiner letzten Reise ein und eröffnet mit der für Meise beunruhigenden Erkenntnis, dass auf seinem Konto noch vererbtes Geld ist welches unbedingt verpulvert werden muss. Die Notwendigkeit der Verschwendung treibt ihn zu einem Bekannten ins Moseltal, wo eine Umgebung aus weinseligem Kleinstadtmief und kotzlangweiligen Dauerbeziehungen mit seinem unbedingten Willen zum Hedonismus kollidieren.

Im Prinzip also dieselben - oder die gleichen? - Eckpfeiler wie in Muff Pottes Liedgut auch. Normierte Erziehung ohne Kreativität - ganz schlechte Sache; Arbeiten im Anzug für einen Großkonzern - total übel; und vor allem: Beziehungen sind zum Scheitern verurteilt.

So weit, so kongruent. Die Sache ist nur, dass ein Buch im Vergleich zum Songtext allein schon wegen des Umfangs mehr als nur eine Aneinanderreihung von Phrasen wie "Wenn etwas gut ist dann das hier" oder "Alles war schön und nichts tat weh" sein muss. In Nagels Fall heisst das, wenn die Musik von Muff Potter der Trailer war, dann ist das Buch der abendfüllende Spielfilm. Genug Platz also für Monologe und Wortwechsel, für langsame Einstellungen und Nahaufnahmen, für spannende Momente und subtilen Humor. Doch stattdessen bietet das Buch vor allem eine Menge spät-pubertäres Ich-bin-zu-geil-für-diese-Welt und zweifelhafte Coolness, wie man sie seit den heydays der Popliteratur nicht mehr gelesen hat. Statt dem erwarteten Pamphlet contra dem Stumpfsinn eine Universalbeleidigung an alles und jeden auf Niveau eines Stuckrad-Barres. Apropos, bei genauem Hinsehen wird die Schnittmenge zwischen Nagel und dem ehemaligen Popliteraten erschreckend groß. Das hedonistische Drogengepose und vor allem die Aneinanderreihung von Klischees gegenüber allem was nicht nach Millionenstadt oder Party riecht sind nur zwei Beispiele. Dabei fällt auf, dass Nagel mit Mitte Dreizig auch einen ähnlichen Schreibstil fährt wie von Stuckrad-Barre Anfang Zwanzig. Angry Pop Literatur eines Autors mit Lebenserfahrung sollte anders klingen, aber vielleicht waren meine persönlichen Erwartungen auch nur zu hoch.

Was vom Buch positiv in Erinnerung bleibt ist Nagels Talent für Charakterisierungen und treffenden Beobachtungen. Stückwerk also. Da passt auch die durchaus originelle Strategie Passagen des Buches mit Musik unterlegt als Hörbuchsingles zu verbreiten gut ins Bild. Bleibt noch die Frage nach der Zielgruppe. Leute mit Arbeit, Beziehung und/oder Eigenheim fallen ja anscheinend raus. Oder werden gerade die angesprochen? Bitte melden, falls sich jemand nach dem Lesen des Buches von seinem Chef, Freund oder Haus getrennt hat. Echte Muff Potter Fans sollten momentan besser auf die Musik zurückgreifen.

Montag, 20. Dezember 2010

Widerwille

Die Begriffe Türschwelle und Hemmschwelle meinten in diesem Moment dasselbe. Das Überschreiten wurde ihm durch die elektronische Tür, die sich automatisch mit einem Summen öffnete, leicht gemacht, allerdings fühlte er in gewissen Teilen seines Körpers einen Widerwillen, ein Protest.
Es war schon eine Weile her, dass zum letzten Mal ein Fast Food Restaurant besucht hatte. Als Jugendlicher, also vor ein paar Jahren, da war die McDonald’s Filiale am Stadtrand zum allgemeinen Treffpunkt geworden. Nach dem Kino, vor der Disko oder im Laufe eines Abends mit Freunden war ein Besuch nahezu obligatorisch. Damals hatte er sich keine Gedanken über die Qualität des Essens, über die Herkunft der Zutaten, über die Verarbeitung und vor allem über den Geschmack des Endproduktes gemacht. Damals - das war bevor er sich die Lebensmittelvergiftung einhandelte. Niemand kannte die Gründe, die Ärzte konnten nur spekulieren, aber schon als er zwei Tage regungslos im Bett lag und sich nur zum Kotzen ins Bad zwang war ihm klar, dass sein Zustand etwas mit dem Essen aus dem Fast Food Restaurant zu tun haben musste.
Und jetzt war er wieder hier. Zwar 9000 km von seiner Heimatstadt, aber trotzdem dieselbe Kette, dasselbe Angebot und dieselben Gerüche.
Warum eigentlich? War es Geiz, war es Angst vor weiteren kulinarischen Reinfällen, die er in den letzten Tagen in der fremden Stadt erlebt hatte oder war es einfach nur ein Ausdruck von Heimweh? War er ein Gefangener der Globalisierung, der sich in der Fremde nach Bekanntem sehnte, nach etwas, dass ihm vertraut erscheint.
Er war zu hungrig, um weiter darüber nachzudenken. Anstellen, bestellen, Tablett abstellen und essen.
Nach vier Minuten war alles vorbei.